Diskursgeschichte einer Begriffsbildung der Lyriktheorie

Workshop der Forschungsstelle „Historische Poetik und Formtheorie" an der Universität Konstanz am 7. & 8. Dezember 2023

Als „Freie Rhythmen“ wird gemeinhin eine von Klopstock inaugurierte und von Goethe, Novalis und Hölderlin weiterentwickelte Lyrik in hymnischem Stil bezeichnet, die sich von Formkonventionen wie Metrum, Reimschema und Strophengliederung ablöst und zugleich an klassische Muster gebunden bleibt. Inspiriert von Pindars dithyrambischen Oden, den biblischen Psalmen und der vermeintlich Ossianischen Bardendichtung lässt sich Lyrik in „Freien Rhythmen“ als eine schöpferische Arbeit mit antiken Versfüßen und damit als Emanzipationsbewegung gegenüber Formimperativen strenger Regelmäßigkeit verstehen. In der Literaturwissenschaft wird diese Ende des 18. Jahrhunderts entstehende Forminnovation auf emphatische Weise als spezifisch deutscher ‚Sonderweg‘ der Lyrikgeschichte gefeiert: So bezeichnet Wolfgang Kayser den „Freien Rhythmus“ als „fast den einzigen Beitrag, den die deutsche Lyrik zum Formenschatz der Weltliteratur geliefert hat“; analog spricht Otto Knörrich in seinem „Lexikon lyrischer Formen“ (2. Aufl. 2005) vom „bedeutendsten Beitrag der deutschen Dichtung zur internationalen Formensprache des Verses.“

Demgegenüber besteht der kritische Einsatzpunkt der hier geplanten Tagung darin, dass weder die einschlägigen Autoren noch die zeitgenössische Kritik (Lessing, Hamann, Herder) den Terminus „Freie Rhythmen“ verwenden und der Begriff daher als Sammelbezeichnung für eine bestimmte Tendenz lyrischer Dichtung der Sattelzeit nicht umstandslos vorausgesetzt werden kann. Von „Freien Rhythmen“ ist ausdrücklich erst um 1890 im Zuge einer methodischen Goethe-Philologie („Goethe-Jahrbuch“) sowie einem wiedererwachten Interesse an Klopstocks Oden (Neuausgabe von Pawel/Muncker) die Rede und die Etablierung des Begriffs korreliert auffällig mit der Institutionalisierung der Neuen deutschen Literatur als selbständiges Fach der Universitätsgermanistik. Gleichsam mit hundertjähriger Verspätung machen die „Freien Rhythmen“ indessen erstaunlich schnell Karriere – und zwar nicht nur in den verschiedenen Abteilungen der Literaturwissenschaft wie der Metrik (Jakob Minor: „Neuhochdeutsche Metrik", 1893; Andreas Heusler: „Deutsche Versgeschichte", 1925-29), der Linguistik (Eduard Sievers: „Grundzüge der Phonetik", Leipzig 1901) oder der Literaturgeschichtsschreibung (Fritz Strich: „Deutsche Klassik und Romantik", 1922), sondern auch in der Literatur selbst: Wie schon der Titel von Paul Ernsts Gedichtband „Polymeter“ (1898) den Begriff reflektiert, so findet er explizit Eingang in poetologische Grundlagenschriften von Dichtern, etwa in Arno Holzʾ „Revolution der Lyrik“ (1899) oder in Rudolf Borchardts „Rede über Hofmannsthal“ (1907). Bei den „Freien Rhythmen“ handelt es sich also nicht nur um einen wissenschaftlichen Begriff, der nachträglich zur Bezeichnung eines bestimmten Literaturkorpus eingeführt wird, sondern um eine Art ‚programmatisches Konzept‘, das seinerseits sehr stark auf die moderne Lyrik eingewirkt hat, so dass zu fragen ist, unter welchen Bedingungen von „Freien Rhythmen“ in Gedichten von Heine, Mörike, Liliencron, Trakl, Rilke, Brecht, Benn oder Bachmann die Rede sein kann. Der Einfluss, den Norbert von Hellingraths Einleitung zu Hölderlins Pindar-Übersetzungen auf die freirhythmischen Gedichte in Rilkes „Duineser Elegien“ ausgeübt hat, kann hier als kardinales Beispiel dienen. Die wissenschaftlichen Quellen zur Theorie und Praxis der „Freien Rhythmen“, auf welche die Lyrikautoren des 20. Jahrhunderts haben zurückgreifen können, sind so umfangreich wie vielfältig – sie reichen von der Editionsphilologie (Norbert von Hellingrath), der Poetik (Emil Staiger, Max Kommerell), der Ausdruckspsychologie (Ludwig Klages) bis zur philosophischen Ästhetik (Theodor W. Adorno) und zur poststrukturalistischen Literaturkritik (Hans-Jost Frey).

Ziel der geplanten Veranstaltung ist es nicht, das Strukturprinzip freirhythmischer Dichtung an Gedichten kanonischer Vertreter wie Klopstock, Goethe oder Hölderlin noch einmal durchzuexerzieren. Vielmehr soll diskutiert werden, wer von welchem Standort und in welchem Kontext auf den Terminus „Freie Rhythmen“ rekurriert und welche poetologischen, theoretischen oder politischen Strategien mit diesem Einsatz einhergehen. Aus politiktheoretischer Sicht wäre nach den Implikationen des ‚ästhetischen Liberalismus‘ zu fragen, den die „Freien Rhythmen“ versprechen, und danach, wie der Rückgriff auf Traditionsbestände mit formaler Autonomie zusammen gedacht wird. So rückt mit der Theorie- und Literaturgeschichte der „Freien Rhythmen“ die Konkurrenz zwischen verschiedenen Narrativen literarischer Moderne in den Blick. Insbesondere der aus verschiedenen Richtungen unternommene Versuch, aus der Lyrik in „Freien Rhythmen“ ein Konzept der (deutschen) Nationalpoesie abzuleiten, soll dabei auf den Prüfstand gestellt, kritisch reflektiert und komparatistisch perspektiviert werden. Die Veranstaltung lädt dazu ein, die Verflechtungen von Theorie-, Fach- und Literaturgeschichte, die der Begriff der „Freien Rhythmen“ im späten 19. und 20. Jahrhundert stiftet, gemeinsam zu erkunden. Folgende Fragen können zur Anregung dienen:

  1. Wie verhält sich die (vermeintlich) deutsche Tradition einer Lyrik in „Freien Rhythmen“ zu dem englischen ‚free verse‘ oder dem französischen ‚vers libre‘ bzw. Madrigalvers oder zu anderen literarischen Traditionen ungebundener Versformen (Walt Whitman, T.S. Eliot, Paul Claudel u.a.)?
  2. Auf welche Weisen zirkuliert das Konzept der „Freien Rhythmen“ zwischen Philologie und Literatur?
  3. Was für eine Idee von ‚Freiheit‘ liegt der Rede von den „Freien Rhythmen“ jeweils zugrunde und wie manifestiert sich der damit verbundene ‚ästhetische Liberalismus‘?
  4. Wie wird in der Inanspruchnahme „Freier Rhythmen“ jeweils die Annäherung der Lyrik an Formen der Prosa reflektiert?
  5. Wie wird in Theorien der „Freien Rhythmen“ das visuelle Schriftbild zur klanglich-akustischen Dimension ins Verhältnis gesetzt?
  6. Welche Rolle spielt im 20. Jahrhundert die Wiederentdeckung von Autoren wie Hölderlin und Nietzsche (insbesondere der „Dionysos-Dithyramben“) für die Reflektion einer Lyrik in “Freien Rhythmen“?

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