Konzept

Lars Friedrich

Die Forschungsstelle „Historische Poetik und Formtheorie“ situiert sich an der Schnittstelle von Poetik und Ästhetik und erhält ihr Profil dadurch, dass sie an der Ausdifferenzierung beider Disziplinen im 18. Jahrhundert ansetzt. Wird diese Ausdifferenzierung üblicherweise als Übergang von den aufklärerischen Regelpoetiken zur Genie- bzw. Autonomieästhetik beschrieben, so besteht der zentrale Einsatzpunkt darin, diese Entwicklung an beiden Polen schärfer zu konturieren. Dies ist in vier im Folgenden zu beschreibenden Teilprojekten zu leisten: 1. Die Regel der Poetik. 2. Das Genieparadigma der Poetik. 3. Das Produktionsparadigma der Poetik. 4. Die Formate der Poetik.

1. Die Regel der Poetik

In Bezug auf normative Anweisungspoetiken ist der Nexus von Regel und Poetik nicht als invariante Konstellation vorauszusetzen, sondern zu fragen, wie in Poetiken Regeln überhaupt gebildet werden und wie in ihnen unterschiedliche Regellogiken und Regelrhetoriken zur Anwendung kommen. So ist aus historischer Perspektive insbesondere interessant, wie die präskriptiven Barockpoetiken abgelöst werden von der Critischen Dichtkunst (Gottsched/Breitinger), die ihre Prämissen auf der Grundlage der Aufklärungsphilosophie (Leibniz/Wolff) rationalistisch herleitet. Aus systematischer Perspektive sind die unterschiedlichen Logiken in den Blick zu nehmen, die in Regelpoetiken zur Anwendung kommen. Wie verhält sich der Deduktionsanspruch der Regelpoetik zu Auflistungen von Musterbeispielen? Wie lassen sich poetische und rhetorische Regeln unterscheiden? Über den Rahmen der Dichtkunst hinaus ist insbesondere zu überprüfen, inwiefern sich poetologische Regelregime auf Machttechnologien von Disziplinargesellschaften transparent machen lassen.

              So wie das einer rationalistischen Tugendethik verpflichtete Projekt einer Critischen Dichtkunst im 18. Jahrhundert an Verbindlichkeit verliert, so lässt sich ein Übergang von einer legislativen zu einer erfahrungsgeleiteten Poetik konstatieren. Diese Transformation der Poetik zu einer Begleitreflektion eigener Schaffensprozesse geht mit einer Inversionsbewegung zur „inneren Regel“ (Gerstenberg) einher, die nicht die Verabschiedung, sondern eine Dynamisierung und Flexibilisierung normativer Codierungen zur Folge hat. Schillers Briefwechsel mit Goethe, in dem im Unterschied zu seinen ästhetischen Abhandlungen aus konkreten Stoff- und Materialzusammenhängen allgemeine Prinzipien erprobt werden, kann diesbezüglich als kardinales Beispiel gelten. Das Teilprojekt geht hier von der Annahme aus, dass die Inversion der Regel Innovationen ihrer Funktionslogik bewirkt, welche auf die Poetik rückübertragen werden und ihr Projekt neu konfiguriert. Insbesondere im Hinblick auf nach-idealistische Poetiken ist zu fragen, ob in den Modi der Reflektionsform (Friedrich Schlegel) oder den „Verfahrensweisen des poetischen Geistes“ (Hölderlin) die Regel in zweiter Potenz in die Poetik zurückkehrt.

2. Das Genieparadigma der Poetik

Wird der Übergang von den aufklärerischen Regelpoetiken zur Genieästhetik traditionell als Prozess beschrieben, in dem die Möglichkeitsspielräume künstlerischer Praxis von der Wirklichkeit entkoppelt und auf unverwechselbare Originalentwürfe umgestellt wird, so stellt der Geniediskurs eine zentrale Herausforderung der Historischen Poetik dar. Aus der Perspektive einer Technikgeschichte der Poetik ist der Geniebegriff indessen nicht als quasi-göttliches Schöpfungsmandat oder als Figur ästhetischer Subjektivität, sondern als Referent eines Impuls- oder Kraftprinzips zu profilieren, durch den die Beziehungen zwischen Künsten, Wissenschaften und Handwerkszweigen im 18. Jahrhundert neu konfiguriert werden. Wenn Diderot und D’Alembert als Motto ihrer Encyclopédie eine Stelle aus der Poetik des Horaz auswählen, so ist damit nicht mehr das traditionelle Regelparadigma adressiert. Der Fokus richtet sich vielmehr auf das Vermögen poetischer Einbildungskraft, durch das aus dem gesammelten und systematisch geordneten Wissen neue Formen und Produktionspraktiken zu generieren sind. Im Anschluss an diese Entgrenzung der Poetik widmet sich dieses Teilprojekt insbesondere dem Problemkomplex, wie es zur wechselseitigen Neukonstitution zweier Figuren kommt, die durch die Distanz zwischen Kunst und Handwerk vorher nur in Ausnahmefällen zusammentreffen konnten: dem Genie und dem Ingenieur. Erst die Allianz beider Figuren macht im Kontext einer systematischen Vernetzung aller Wissenschaften und Künste den Emanzipationsschub plausibel, der Formbildungsprozesse aus traditionellen Bindungen löst, Schöpfungsphantasien mit planbaren Umsetzungspraktiken verbindet und spezifische Techniken unter dem Begriff eines technologischen Wissens zusammenführt. An exemplarischen Fallbeispielen wird zu zeigen sein, wie impulsgebendes Genie und technologiegeschulter Ingenieur zusammenwirken, um Natur selbst als etwas systematisch Formbares zu begreifen, durch Eingriffe in ihre Prozesse landschaftliche Konturen umzubilden und insbesondere durch Modellierung fließender Gewässer Formdynamiken an liquiden Aggregatszuständen zu messen.

3. Das Produktionsparadigma der Poetik

In Poetiken der klassischen Moderne ist eine zunehmende Durchdringung von dichterischer Praxis und kritischer Reflektion sowie ein verstärktes Interesse an Produktionsverfahren zu beobachten. Trotz ihrer unterschiedlichen Prämissen und Ausrichtungen zeichnen sich Edgar Allan Poes „poetic principle“, Wilhelm Scherers „charakteristische Auffassungsgabe“ des Dichters oder Paul Valérys „poetischer Zustand“ dadurch aus, dass sie die poetischen Kompositions- und Konstruktionsprinzipen über das Werk stellen. Dieser Primat der Produktionsverfahren gegenüber dem Produkt soll in diesem Teilprojekt in zwei Richtungen analysiert werden. Einerseits ist zu zeigen, dass die Überwindung der Werkpoetik als Projekt der Poetik selbst zu rekonstruieren ist und derart die Poetik der klassischen Moderne daran arbeitet, ihr eigenes Ende zu beschreiben. Andererseits ist umgekehrt zu eruieren, ob die Beschreibungen von Produktionsverfahren nicht selbst poetische Dignität erlangen und derart die moderne Poetik sich darüber definiert, was seit der römischen Antike zu ihren essenziellen Möglichkeiten gehört – nämlich selbst ein literarisches Werk zu sein. Ausgehend von der als Versepistel abgefassten Ars Poetica des Horaz ist zu analysieren, welche spezifisch poetischen oder prosaischen Darstellungsmodi Poetiken in bestimmten Epochen jeweils favorisieren. Als Fluchtpunkt dieses Teilprojekts rückt das im 20. Jahrhundert entstandene und bis heute prominente Genre der Poetikvorlesung in den Blick. Durch die Frage, ob sie die Kluft zwischen poetischer Praxis und kritischer Reflektion eher betonen oder minimieren, können Poetikvorlesungen in Diskussionszusammenhänge einer Historischen Poetik eingebunden werden.

4. Die Formate der Poetik

Während sich die aufklärerischen Regelpoetiken an philosophische Abhandlungen mit ihren in Kapiteln- oder Paragraphenkaskaden getakteten Systemordnungen orientieren, so ist der Parcours nachzuzeichnen, auf dem die Poetiken ab der Mitte des 18. Jahrhunderts die kurzen, beweglichen und locker gefügten Formate favorisieren. Dabei geht das Teilprojekt von der Beobachtung aus, dass sich diese Entwicklung nicht erst in den Sturm-und-Drang-Poetiken durchsetzt, sondern schon in klassizistischen Abhandlungen wie Charles Batteuxʼ Traktat Les beaux-arts réduit à un même principe (1746) am Werk ist. So wie Batteux seine Schrift in neuen Auflagen beständig umarbeitet, erweitert und in Volumina größerer Abhandlungen integriert, so fertigen seine deutsche Übersetzer Gottsched, Johann Adolf Schlegel und Karl Wilhelm Ramler mit eigenen Zusätzen oder Anmerkungen versehene Übertragungen oder komprimierte Extrakte an und bezeugen derart eine hohe Volatilität poetologischer Formate. Doch generiert die Poetik diese Diversifizierung ihrer Formate – und darin besteht ein zentraler Einsatzpunkt der Forschungsstelle – nicht allein aus sich selbst. Programmatisch kann sie diese Formate vielmehr erst in dem Moment aus der Rahmung philosophischer Systemordnungen befreien, in dem die aus der Philosophie ausgegründete Ästhetik mit der Neujustierung der Erkenntnisvermögen ihr Regelparadigma adaptiert (Baumgarten) und sich derart als „Metapoetik“ (Herder) konstituiert. Im Gegenzug bedient sich die Poetik nach dem Auszug ihres Regelparadigmas mit der „Rhapsodie“, dem „Brief“, dem „Fragment“, dem „Einfall“ oder dem „Entwurf“ vorzugsweise digressiver, beweglicher, dichter wie zugleich strukturoffener Textformate, welche die Distanz zum Prinzip poetischer poiesis kurzhalten und in Abgrenzung zur Ästhetik eine Aufwertung von Produktionspraktiken betreiben. Diesbezüglich ist zu prüfen, ob sich diese Valorisierung strukturoffener Textformate nicht als Emanzipationsbewegung von Paratexten beschreiben lässt, die nicht mehr wie in den Regelpoetiken präliminarische Funktionen ausüben, sondern sich selbst an die Stelle des Ganzen setzen.